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Sonntag, 4. Januar 2015

Gefährlicher Wintersport - ein Bild und viele Geschichten

Dass der Wintersport bereits in seinen Anfängen gefährlich sein konnte, erstaunt angesichts der verwendeten Materialien und mangelnder Sicherheitsvorschriften nicht weiter. (Henning wusste schon, warum er sich von der Bobbahn fernhielt). Manche Unfälle waren spektakulär genug, um nicht nur nationale, sogar internationale Schlagzeilen zu machen. 

Vor einiger Zeit brachte mich eine Recherche zum Wintertourismus in der Schweiz während der Belle Epoque ins Archiv der New York Times. Dort wurde im Gesellschaftsteil aufgeführt, welche Berühmtheiten des britischen und amerikanischen Oberschicht sich gerade in Gstaad oder St. Moritz verlustierten. Dabei stiess ich auch auf einen kurzen Artikel zu einem Bobunfall in St. Moritz, bei dem auch mehrere Zuschauer verletzt worden waren. Letzten Sommer fand ich dann dieses Titelbild der Schweizer Illustrierten Zeitung vom 28. Februar 1914:

Schweizer Illustrierte Zeitung Heft 9 /1914 (Photo: Flury, Kulm, Basar, St. Moritz)

Der wild gewordene Bob: 
Auf dem Cresta Run, der berühmten Bobsleigh-Rennbahn bei St. Moritz, fuhr am Sunnay (sic) Corner*, der gefahrdrohenden grossen Kurve, ein Bobsleigh infolge Bruchs der Steuerung über die 10 Meter hohe Kurvenwand in die vollbesetzen Tribünenplätze hinein - diesen kritischen Moment zeigt unser Bild -, wobei er noch einen 9 Meter langen Luftsprung machte. Die Bob-Mannschaft kam wunderbarerweise ohne jeden Schaden davon, während von den Zuschauern einige leicht verletzt wurden. 

Ich machte mich nochmals auf ins Archiv der New York Times, um abzuklären, ob dies nicht der Unfall sein könnte, über den ich bereits einmal gelesen hatte. Und tatsächlich stimmten die Daten überein. Nur schenkte man hier den Verletzten etwas mehr Beachtung und so erhalten wir die Namen einiger Hauptakteure auf dem spektakulären Foto.

In St. Moritz verletzt
Miss Fernald aus Chicago bei Unfall mit entgleistem Bob verletzt
Spezialbericht der New York Times
St. Moritz, 16. Februar. Heute ereignete sich auf der hiesigen Bobbahn ein schwerer Bob-Unfall. Ein von Mr Abercromby gesteuerter Bob schoss aufgrund eines Defektes der Steuerung aus der Bahn und verletzte mehrere Zuschauer schwer. Mme. von Schroeder, Miss Bessie Swift Fernald aus Chicago und Capt. Payne wurden schwer, aber nicht lebensgefährlich verletzt.
Mrs Saunders, Ehefrau von Capt. Saunders des King's Royal Rifle Corps und Miss Jackson, Tochter von Sir Thomas Jackson, blieben wundersamerweise unverletzt, als der Bob über sie hinwegschoss.
(c) The New York Times (Archives)

Zu einigen der genannten Persönlichkeiten finden sich in den Tiefen des www weitere Informationen. Bessie Swift Fernald (1883-1920), deren Name im Untertitel separat auftaucht, war die Tochter des Präsidenten von Swift & Co und damit eine steinreiche Erbin.  Von einem aus der Bahn geworfenen Bob verletzt zu werden, war bei weitem nicht das Aufregendste, was dieser Dame in ihrem Leben widerfuhr. Sie hatte sich zwei Jahre zuvor scheiden lassen, weil sie "Europa mehr mochte" als ihren Mann. In einem Zeitalter, in dem eine Scheidung immer noch soziales Stigma nach sich zog, musste man schon Millionen-schwer sein, um mit einer dermassen frivolen Bemerkung davonzukommen.

Miss Jackson, die unverletzt blieb, war wahrscheinlich Dorothy St. Felix Jackson (1887), die jüngste Tochter von Sir Thomas Jackson, unter dessen Leitung die Hong Kong & Shanghai Banking Corporation im ausgehenden 19. Jahrhundert zur führenden Bank Asiens wurde. (Für Clavell-Leser: Sir Jackson war der erfolgreichste Tai-Pan der Epoche.) Für seine Verdienste wurde er 1902 mit dem Titel eines Baronet ausgezeichnet. Sir Jackson hatte fünf Töchtern, die in den 1870er und 1880er Jahren geboren wurden. Vier davon heirateten, nur die jüngste Dorothy  blieb ledig. Sie führte ein weniger aufregendes Leben als Miss Bessie Swift Fernald und so gibt es über sie nicht viel weiter zu berichten.

Bei dem verletzten Captain Payne der King's Rifles handelte es sich wohl um Captain Edward Aldborough Saunders, einem dekorierten Veteran der Burenkriege, der sich seit 1911 vom aktiven Dienst zurückgezogen hatte.

Aber dieses Foto liefert mehr als nur eine Momentaufnahme der gesellschaftlichen Verhältnisse in einem mondänen Winterkurort, wo sich die Oberschicht des Empire, der Adel und Geldadel der neuen Welt und der alten Welt trafen; es bildet auch eine Welt ab, die innerhalb weniger Monate nicht mehr existieren wird. Eine Wintersaison wie diese würde St. Moritz nicht mehr erleben. 

Gut ein Jahr nach diesem Unfall erschien im Februar 1915 im Clinton Mirror, einer amerikanische Zeitung, ein Artikel mit der Überschrift War takes 'Ice Jockeys'. Es ging um den Blutzoll, den der Krieg unter den Teams, die den Cresta Run befahren hatten, forderte: "Der berühmte Cresta Run in St. Moritz wird viele seiner bekannten ice jockeys, deren Exploits das Interesse der berühmten Gäste, darunter dem Kronprinz von Deutschland und des Erben der österreichisch-ungarischen Krone erregten, nie mehr wieder sehen." Viele Teams hatten aus britischen Offizieren bestanden, deren Reihen nun durch den Krieg, vor allem die verlustreichen Schlachten an der Marne und Aisne vom Herbst 1914, dezimiert worden waren. 

Im Artikel werden gefallene bzw. verwundete ice jockeys mit Namen aufgeführt, unter den Verletzten findet sich auch ein Captain Abercromby, dessen mutigen Fahrten im Cresta Run besonders erwähnt werden. Es dürfte sich wohl um Mr Abercromby handeln, der den Unglücksbob gesteuert hatte. Der Korrespondent hält weiter fest: "Ohne diese Elite britischer Sportsmänner wird St. Moritz diesen und wohl noch viele weitere Winter über 'tot' sein." Dieser Satz fasst nicht nur prägnant die Situation in den Schweizer Wintersportorten zusammen, sondern zeigt, dass es bereits zu diesem Zeitpunkt klar war, dass der Krieg noch sehr lange dauern würde. Ob Captain Abercromby den Krieg überlebt hat, konnte ich nicht herausfinden. Ev. würde man in Archiven in St. Moritz mehr über sein Schicksal (und das seiner Teamgenossen) erfahren.

Über Miss Swift Fernald hingegen fand ich noch einiges heraus. Die Dame besass nicht nur viel Geld, sondern auch reichlich Persönlichkeit. Nach Kriegsausbruch war sie in einer Hilfsorganisation für französische Verwundete tätig. Sie reiste schliesslich nach Frankreich, um eigenhändig bei der Versorgung von Verwundeten zu helfen. Nach Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg 1917 kümmerte sich um dort stationierte US Marines. Sie folgte den Truppen schliesslich an die Front, um  auch dort Lazarettdienst zu leisten. Für ihren Einsatz wurde sie mit dem Ehrentitel "Little Mother of the Marines" bedacht.  Anscheinend wurde ihre Gesundheit aber nachhaltig geschwächt. Sie starb 1920 an einer Lungenentzündung, die sie sich bei einem Flug von Brüssel nach London geholt hatte. Bei ihrer Beerdigung wurde des Brief eines Majors des USMC verlesen. Der Major schrieb, die "Little Mother of the Marines" hätte den Wert eines ganzen Bataillons gehabt.

* Es handelt sich um den Sunny Corner im Olympia Bobrun St. Moritz Celerina.




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