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Montag, 29. Oktober 2012

Etikette auf Reisen I


via Graphics Fairy
Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde das Reisen - bisher ein Privileg der Aristokratie - auch für den aufsteigenden Mittelstand erschwinglich. Aber auch hier galt es, unbedingt die vielen Regeln der Etikette zu kennen, um nicht unangenehm aufzufallen. Die Benimmbücher jener Epoche geben einen interessanten Einblick in Regeln und Rituale des Reisens.

Bereits damals wurde empfohlen, mit "leichtem" Gepäck zu reisen  wobei man darunter wohl nicht ganz dasselbe verstand wie wir heute. So sollte der Gentleman, der sich nach Süden begibt, folgendes einpacken: "Frack, Sakko, Cut away. Der Smoking ist absolut entbehrlich, weil selbst in den intimsten Klubs, den kleinsten Restaurants, den minderwertigsten Theatern der Côte d'Azur kein Mensch ohne Frack zu sehen ist. Bekannte Rivierabummler sparen sich sogar oft den Cut away und nehmen dafür einen Frack mehr mit. Oder noch einen Sakko, denn der Sakko dominiert an der Riviera.  (..) Blieben noch Wäsche (immer ein Dutzend Oberhemden mehr als nötig), Pyjama, Hausschuhe und der Sportdress. Für die spielende Herrenwelt sind Reserve-Spielfracks von großem Nutzen, die nach getaner 'Arbeit'mit dem Gesellschaftsfrack vertauscht werden." Hier handelt es sich natürlich um die Garderobe eines ausgesprochen gut betuchten Herrn. Doch auch in Handbüchern, die sich eher an die Mittelschicht richten, listen eine beeindruckende Anzahl von Kleidungsstücken auf, die heute niemand mehr einpacken würde (mehrere Anzüge, Waschlederhandschuhe, Glacéhandschuhe).

Auch das Verhalten im Zug unterlag strengen Regeln: "Beim Einsteigen ins Coupé grüsst man leicht, falls es nicht zufällig eine einzelne Dame, die zu lauter Herren hinzukommt. Man belästige andere nicht mit dem Unterbringen des Gepäcks, von dem so wenig als möglich mit hineingenommen werden sollte und warte alsdann ab, ob sich Gelegenheit zu einem Gespräch mit den Reisegenossen ergibt oder nicht. Damen sollten solches mit Herren nie beginnen, es aber auch nicht unhöflich zurückweisen. Ist man zum Plaudern nicht gestimmt, werden kurze, aber höfliche Antworten dies die andern leicht erkennen lassen. Ebensowenig darf man allzuschnell bekannt oder gar vertraut werden – gerade auf der Reise ist Vorsicht nötig. Damen ist besondere Zurückhaltung zu empfehlen."

Reisebekanntschaften waren ein heikles Thema. Grundsätzlich wurde immer zur Vorsicht gemahnt, insbesondere Damen und junge Mädchen sollten sich vor Gesprächen mit Fremden hüten. Deshalb durften Damen auch ein Abteil betreten, ohne männliche Reisende zu begrüssen (s.o.) Es gab jedoch auch etwas liberalere Ansichten: "'Reisebekanntschaften  keine Bekanntschaften', sagt eine bekannte Redensart. Das soll so viel heissen, dass eine unterwegs geschlossene Bekanntschaft keine Verpflichtungen für späteren gesellschaftlichen Verkehr auferlegt. (...) Natürlich ist es nicht ausgeschlossen, dass man auf Reisen Freunde fürs Leben findet, und darum ist es falsch, jede Gelegenheit zur Anknüpfung eines Gesprächs zu vermeiden. Vielleicht hätte dieser oder jener sich als äusserst angenehmer Gesellschafter entpuppt, vielleicht hätten wir gar in jenem unscheinbaren Mann, auf dessen beschiedenes Gepäck wir herablassend schauten, eine europäische Berühmtheit entdeckt. Ja, der Schein trügt gar oft auf Reisen, und wer sich nicht Menschenkenntnis zutraut, das Talmi, das gar oft in lockendem Goldgefunkel auftritt herauszufinden, der sei mindestens vorsichtig bei auffallenden Erscheinungen. Wahrhaft vornehme Leute treten einfach und natürlich auf."

Und liess man sich trotz aller Warnungen auf ein Gespräch mit einem Mitreisenden ein, so galten auch dafür Regeln: "Man vermeide auf der Reise im Gespräch mit Bekannten oder mit Leuten, deren Bekanntschaft man zufällig gemacht hat, alles, was andere Mitreisende verletzen oder ärgern könnte. Auch unterhalte man sich nicht so laut und lache nicht so, dass man die Aufmerksamkeit der anderen Leute auf sich zieht oder sie in ihrer Unterhaltung stört." 


F. W. Koebner: Der Gentleman. Ein Herrenbrevier. Berlin 1913.
B. von York: Lebenskunst - Die Sitten der guten Gesellschaft auf sittlich ästhetischer Grundlage. Ein Ratgeber in allen Lebenslagen. Leipzig 1893.
J. von Wedell: Wie soll ich mich benehmen? Stuttgart 1897.
J. von Eltz: Das kleine Anstandsbuch. Essen 1903.


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