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Sonntag, 11. November 2012

Ein ehrfurchtgebietendes Vestibül


Das aufstrebende Bürgertum des 19. Jahrhunderts orientierte sich am Adel, der - auch wenn er vielerorts bereits seinen politischen Einfluss verloren hatte  die Vorgaben in Sitten, Mode und Lebensweise gab. Diese Ausrichtung am adligen Lebensstil brachte es mit sich, dass man nun zum Vergnügen reiste (in Nachahmung der Grand Tour) und sich in Kurorten und Bädern amüsierte. Die Unterkünfte, die man sich dazu aussuchte, folgten ebenfalls adligen Vorgaben: Die Fassaden der Grand Hotels orientierten sich an der Ästhetik adliger Repräsentativbauten und gemahnten an Renaissancepaläste, Barock-Schlösser und manchmal auch spätmittelalterliche Burgen.

Vor allem bei den im Gefolge der Gründerjahre gebauten Grand Hotels wurde zudem auf die prächtige Gestaltung der Gesellschaftsräume, der Speisesäle und Salons, besonders viel Gewicht gelegt. Frühes Werbematerial zeigt meistens die Gebäude von aussen, bei Hotels in den Alpen oft vor dem Hintergrund einer dramatisch überhöhten Bergwelt. Salons, Speise- und Ballsäle werden manchmal auch abgebildet, um zu zeigen, dass das Innere des Hauses der prächtigen Fassade entspricht. Die Zimmer dieser Grand Hotels waren im Vergleich dazu oft verblüffend schlicht eingerichtet. Aber man ging ja auch nicht in ein Grand Hotel, um auf dem  Zimmer zu bleiben (Ausnahmen bestätigen natürlich die Regel!). Auf den Ephemera der Zeit findet man denn auch so gut wie keine Darstellung von Hotelzimmern.

Zu den Räumen mit hohem repräsentativen Anspruch gehört natürlich auch die Eingangshalle, das Vestibül. Dies ist immerhin der erste Raum, den der Gast beim Betreten des Hauses ins Auge fasst. Das abgebildete Vestibül stammt vom Briefkopf eines jener Hotels, die für das Splendid Pate standen (wenn auch nicht bei der Gestaltung der Eingangshalle*). Der Blick geht von der Treppe zum ersten Stock in den Raum. Der Haupteingang befand sich im Hintergrund im mittleren Arkadenbogen. Im kleinen Kiosk links befand sich das Telefon, im etwas grösseren Kiosk rechts war die Réception untergebracht. Ziemlich genau um die Jahrhundertwende entstanden, ist dieses Vestibül in antikisierenden Stil gehalten: Grotesken und Medaillons mit Frauengestalten schmücken die Decken und Wände, den Boden zieren Mosaikplatten. Deckengestaltung und Raumhöhe lassen einen schon fast an einen Sakralbau denken. 

So prächtig dieses Vestibül auch wirkt, so ist es doch im wahrsten Sinne des Wortes ein Hochstapler. Auf historischem Fotomaterial  ist auszumachen, dass der Raum niemals diese beeindruckende Höhe hatte. Was hier nach mindestens zwölf Metern Deckenhöhe aussieht, war wohl kaum höher als sechs Meter. Der Grafiker manipulierte Tiefenperspektive und Dimensionen. In der Werbung wurde also bereits damals ganz ordentlich getrickst.

(* Das Vestibül des Splendid war etwas weniger pompös, dafür eleganter mit etlichen Art Nouveau Elementen gestaltet.)


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