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Sonntag, 30. November 2014

Heian Hofdamen

Utagawa Kunisada I.: Liebevolle Betrachtung der
Pflaumenbaumblüte im Frühlingsnebel
via zeno.org


Die Gedichte, die Christian in seinem alpinen Rückzug übersetzen wollte, stammen aus dem Japan des 10. Jahrhunderts.* Das Besondere an diesen über 1000-jährigen Texten ist, dass sie alle von Frauen verfasst wurden, die während der als Heian-Zeit (794-1185) bezeichneten Periode am japanischen Kaiserhof lebten. Hei-An bedeutet "Sicherheit (und) Frieden", wobei in der japanischen Schreibweise das kanji (d.h. das chinesische Zeichen) für Frieden aus dem Zeichen für "Frau" unter dem Zeichen für "Dach" besteht. Mit dieser Ära schliesst die klassische Phase der japanischen Geschichte (ca. 300 – 1185).

Das Japan dieser Zeit unterschied sich ganz wesentlich von dem im Westen besser bekannten Japan der folgenden feudalen Periode (Shogunat und Samurai seien hier nur als Stichworte genannt). Ein bedeutsamer Unterschied liegt in der besseren Stellung der Frau, die sich im rechtlichen wie kulturellen Kontext ausdrückte. Es war eine Zeit kulturellen Aufschwungs, der kaiserliche Hof wurde zum Zentrum einer äusserst verfeinerten Adelskultur und die japanische Literatur erlebte eine Blüteperiode, die auch von den Damen des kaiserlichen Hofes mitgetragen wurde. Diese Frauen prägten nicht nur die Entwicklung zahlreicher literarischer Formen, sondern auch der Schrift, in der diese festgehalten werden: die als Hiragana bezeichnete Silbenschrift, deren ursprüngliche Bezeichnung onna-de "Frauenhand" war.**

Das höfische Leben war stark ritualisiert, Kenntnisse der Poesie und die Fähigkeit, selbst Gedichte für alle Lebenslagen verfassen zu können, gehörten zum Ideal der Adelsschicht. Die perfekte Hofdame verfügte über profunde literarische Kenntnisse und konnte sich sowohl in Poesie wie auch Prosa ausdrücken. Auf die Ausbildung von Töchtern, die – das darf man bei all der Betonung schöngeistiger Ideale niemals vergessen – für ihre Väter eine Form politischen Kapitals darstellten, wurde deshalb viel Wert gelegt. Eine Einschränkung gab es allerdings: der Korpus der chinesischen Literatur war für Frauen nur in Übertragungen zugänglich, denn Frauen sollten weder die chinesische Schrift noch die chinesische Sprache erlernen. (Wie beim Lateinverbot für Mädchen und Frauen in Europa gab es aber auch hier berühmte Ausnahmen.)

Die Geschlechterbeziehungen waren von einer komplexen Etikette geprägt. Die Frauen lebten abgeschlossen in ihren eigenen Quartieren, wo sie sich Literatur und Kunst widmeten. Männer- und Frauenwelt waren streng voneinander getrennt. So zumindest war die Theorie – wer die Tagebücher der verschiedenen Hofdamen liest, sieht aber, dass es doch recht viele Ausnahmen gab. Vielleicht sollte man besser von einem inoffiziellen Verhaltenscodex sprechen. Die Sexualmoral der Zeit war ausgesprochen offen. Polygamie war eine anerkannte Praxis, ein Mann konnte neben zahlreichen Frauen auch noch offizielle Konkubinen und heimliche Geliebte unterhalten. Das erscheint nicht weiter ungewöhnlich, ungewöhnlich ist aber das Mass sexueller Selbstbestimmung, welches unverheirateten Frauen zugestanden wurde. Einen oder mehrere Liebhaber zu haben, war kein Vergehen – zumindest solange nicht, wie die Dame mit einem gewissen Mass an Diskretion vorging. Zur Frage, wie etwaige Folgen solcher Promiskuität verhindert bzw. wie mit ihnen umgegangen wurde, findet man kaum Informationen. Unehelicher Nachwuchs war anders als im Westen keine moralische Last, trotzdem dürfte es zu Problemen gekommen sein. Diese sexuelle Freiheit ging einher mit einer beachtlichen rechtlichen Unabhängigkeit: Frauen durften über Besitz und Einkünfte selbst verfügen und eine Scheidung war relativ einfach zu erreichen. Es gab aber Einschränkungen, Frauen mochten zwar auf künstlerischem Gebiet den Männern gleichgestellt sein, doch  von öffentlichen Ämtern waren sie ausgeschlossen. Und für verheiratete Frauen gab es keine sexuelle Freizügigkeit mehr, von ihnen wurde aus naheliegenden Gründen Treue erwartet.

Das Anbahnen einer Beziehung zwischen einem Höfling und einer Hofdame erfolgte über ein Gedicht, welches der Mann seiner Auserwählten per Boten zusandte. Fand das Gedicht Gefallen – und in einer dermassen ästhetisierten Gesellschaft bedeutete dies, dass auch die Qualität des Papiers und der Kalligraphie, ja sogar das Erscheinungsbild des Boten, genauesten überprüft wurden – so übersandte sie eine Antwort. Die erste gemeinsame Nacht musste mit Liebesspiel und anregender Konversation verbracht werden, auf keinen Fall aber mit Schlaf! Am nächsten Morgen hatte sich der Mann diskret vor Sonnenaufgang zu entfernen und in sein Quartier zurückzukehren. Dort angekommen musste er wiederum ein Gedicht verfassen. Es folgte nochmals das gleiche Ritual des Gedichtaustauschs, fielen Gedichte (und alles andere möchte man hinzufügen) zu beiderseitiger Zufriedenheit aus, so entspann sich ein romantisches Verhältnis, das in Heirat enden konnte, aber nicht musste. Gedichte wurden natürlich weiterhin in streng ritualisiert Art und Weise ausgetauscht.

Hofkulturen mit komplexer Etikette, der sich eine Elite hingibt, die ihre Zeit nicht mit körperlicher Arbeit zum eigenen Unterhalt zubringt, sind nichts Ungewöhnliches in der Geschichte. Was den Heian-Hof aber so besonders machte, war  dass es hier zu einer aussergewöhnlichen kulturgeschichtlichen Entwicklung kam. Die Damen dieses Hofes stellen in der Literaturgeschichte ein einzigartiges Phänomen dar: ein zeitlich wie lokal konzentriertes weibliches Literaturschaffen, das von Beginn an höchstes Ansehen genoss.

(Zu den bekanntesten Dichter-Damen Ono no Komachi, Sei Shonagon und Murasaki Shikibu wird es noch separate Einträge geben, dann wird auch geklärt, wer die Dame, die sich nie entschuldigt, ist.)

*Die Rezeption japanischer Literatur im Westen lässt sich nicht ganz so einfach nachvollziehen wie das etwa bei den Ukiyo-e möglich ist, da hier immer der Zwischenschritt der Übersetzung nötig war. Deshalb kam es wohl zu einer leichten Verzögerung. Einge der frühesten deutschen Übersetzungen japanischer Lyrik, die ich finden konnte, wurden von Klabund geschaffen, der an TB erkrankt den Ersten Weltkriegs in Schweizer Sanatorien verbrachte und sich dort mit fernöstlicher Literatur zu befassen begann.
** Das Japanische wird in drei Schriften festgehalten: den Kanij (aus dem Chinesischen übernommenen Logogrammen), der erwähnten Hiragana und der Katakana (beides Silbenschriften).

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