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Montag, 17. September 2012

Ein Hotel ohne Plan

Das Grand Hotel Splendid existiert nicht. Es ist ein Fantasieprodukt entstanden aus einer langen Faszination mit den alten Hotelpalästen, die wie etwas deplatzierte Traumschlösser in der Bergwelt eine kurze Zeit lang Luxus und Pracht verbreiteten und dann über Jahrzehnte ums Überleben kämpften.

Als Kind liebte ich zudem Geschichten, die im Hotel spielen: wie die inzwischen fast gänzlich vergessenen Fernsehserie Hallo - Hotel Sacher... Portier und natürlich habe ich mir auch das sehr viel glanzvoller amerikanische Gegenstück Hotel angesehen. Später dann hatte ich immer wieder beruflich mit Grand Hotels zu tun. Ich habe Briefe von Gästen, Tagebücher und Lebenserinnerungen von Angestellten ausgewerte und für eine Weile arbeitete ich auch in einem solchen Haus, das die Zeitläufte überlebt hatte. Die Idee, einen Roman zu schreiben, der in einem Grand Hotel spielte, liess nicht lange auf sich warten - wohl aber die Durchführung.

Als es dann endlich so weit war, wurde mir schon bald klar, dass ein Plan vom Handlungsort her muss. Mit meinem schlechten räumlichen Vorstellungsvermögen würde das Splendid sonst bald räumliche Irrungen und Wirrungen enthalten, die einer Escher Grafik alle Ehre bereiten würden. Ich wälzte Bücher zur Geschichte der Grand Hotels und studierte historisches Bildmaterial. Natürlich konzentrierten sich die Fotografen auf die repräsentativen Schmuckstücke der Hotels: die Fassaden, Foyers und Speisesäle. Die Infrastruktur der Hotels, Arbeitsräume, Hotelküchen und Lingerien wurden selten abgelichtet. Publikationen zur Alltagsgeschichte und private Fotsammlungen von Hotelangestellten halfen dabei, diese Lücken zu schliessen.

Ich erinnere mich an die Besichtigung eines frisch restaurierten Jugendstilhotels. Es war ein heisser Sommertag und das ganze Haus stand den Besuchern offen. Die Salons und Speisesäle im Erdgeschoss waren sorgfältig wiederhergestellt worden. Die Gästezimmer indes hatte man natürlich modernen Bedürfnissen angepasst. Doch das interessierte mich nicht - ich folgte den Treppen immer weiter nach oben, bis es nicht mehr weiter ging und ich die ehemaligen "Angestelltenquartiere" unter dem Dachstuhl erreicht hatte. Dort herrschte brütende, muffige Hitze. In den nun als Abstellräume genutzten Mansarden war kaum Platz aufrecht zu stehen und der Gang war so eng, dass man kaum nebeneinander gehen konnte. Das vermittelte einen lebhaften Eindruck davon, wie die Hotelangestellten gelebt hatte. Und warum die Tuberkulose auch "Hotelkrankheit" genannt wurde: Nicht wegen der Sanatorien für Lungenkranke, die manchmal von Hotels kaum zu unterscheiden waren, sondern weil sie besonders häufig unter Hotelangestellten anzutreffen war, die in engen, schlecht gelüfteten Unterkünften zusammen hausen mussten. Es war ein wenig romantischer Blick hinter die Kulissen.

Schliesslich war ich so weit, dass ich einen Plan des Splendids zeichnen konnte. Ich rechnete die angemessene Zimmerzahl aus, lokalisierte die einzelnen Salons im Hochparterre und zeichnete Stockwerkpläne. Dieser Plan begleitete mich über ein Jahrzehnt. In dieser Zeit veränderte sich die Geschichte und die Charaktere - im allerersten Entwurf hiessen sie noch Victoria und David (dann tauchten die Beckhams in der Yellow Press auf). Auch war die Geschichte zuerst nicht als Krimi oder gar als Spionageroman konzipiert. All das veränderte sich über die Jahre, doch eines blieb stets gleich - der Handlungsort, das Grand Hotel Splendid und sein Grundriss.

Ich bin leider nicht annähernd so ordentlich wie Anna und so wurde es irgendwann im Verlaufe dieses Sommers wieder einmal bitter nötig, meinen Schreibtisch auszugraben. Kurze Zeit später bemerkte ich, dass der Plan des Splendids verschwunden war. Er musste dem unerwarteten Anfall von Ordnungswut zum Opfer gefallen sein. Zuerst konnte ich es kaum fassen und war entsetzt. Wie hatte mir das nur passieren können?

Aber dann kam mir ein anderer Gedanke: Vielleicht ist es gar nicht so schlimm, dass der Plan fort ist. Er wird nicht mehr gebraucht. Inzwischen habe ich das Splendid ja "gebaut". Es steht da, bezugsbereit für alle, die sich auf das Abenteuer einlassen wollen. In diesem Sinne wünsche ich viel Lese-Vergnügen im planlosen Hotel!

KB

Im Splendid kann man zwar nicht mehr nächtigen, doch es gibt Alternativen :
Und für die Recherche:
Historische Hotels
Hotelarchiv Schweiz

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