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Edmund de Waal ist ein englischer
Keramikkünstler, dessen Werke stark von der japanischen Töpfer–Tradition
beeinflusst sind; zudem betätigt er sich auch als Dozent für Kunstgeschichte und
Ausstellungskurator. Der Hase mit den Bernsteinaugen erzählt die
Geschichte einer Kunstsammlung, die de Waal von seinem in Japan lebenden Grossonkel
Izzie erbte. Diese Sammlung besteht aus über 250 netsuke, kleinen geschnitzten
Objekten, die man im alten Japan als Gegengewicht zum inro ebenfalls am Gürtel trug. Netsuke sind oft sehr aufwendig
gearbeitete kunsthandwerkliche Meisterstücke, weshalb sie auch zu beliebten
Sammlerstücken wurden.*
Doch einfach zu sagen, dass de Waal von
Paris über Wien und Tokio nach London (mit einem Umweg über Odessa) die
Geschichte der netsuke recherchierte,
bedeutet, dem Buch und seinem Autor nicht gerecht zu werden. De Waal geht ganz
bewusst nicht wie ein Historiker vor, dies trotz beeindruckender historischer
Recherche (so erfährt man beispielsweise nebenbei spannende Details zur
Architekturgeschichte von Paris und Wien). Er benutzt die Geschichte der
Sammlung nicht als Aufhänger für eine kunsthistorische Abhandlung, vielmehr
beharrt er auf einer taktil definierten Perspektive: Er will nicht einfach
wissen, wer die Sammlung aufbaute und wie sie von Generation zu Generation
weiter gereicht wurde. Vielmehr kehrt de Waal immer wieder zu den netsuke zurück – will wissen, wie
sie aufbewahrt wurden, in welcher Umgebung sie ausgestellt wurden; wer sie in
die Hand nehmen durfte und wer nicht; wer sie sehen konnte und wer nicht. (Vor
allem die letzteren beiden Fragen spielen im vielleicht eindrücklichsten Kapitel
des Buches eine Schlüsselrolle). Daraus ergibt sich eine Intensität der
Erzählung, der man sich kaum entziehen kann.
De Waal verweigert sich auch dem
Blickwinkel des Familienhistorikers und das ist angesichts der Saga, die sich
hier verbirgt, eine eindrückliche Leistung. Der volle Name des Grossonkels
Izzie lautete nämlich (Baron) Ignaz Leo Ephrussi. Die Ephrussis stammten aus
der Ukraine, wo der Patriarch der Familie in der ersten Hälfte des 19.
Jahrhunderts ein auf Getreidehandel gegründetes Imperium erschuf; seine Söhne
schickte er nach Paris und Wien, wo sie zur Gründerzeit den Ausbau des Familiengeschäftes
vorantrieben und Bankhäuser eröffneten. Der Reichtum der Familie war sagenhaft,
ebenso ihr Ruf als Kunstsammler. Mit den Rothschilds waren die Ephrussis
verschwägert. Die Geschichte der Ephrussis in Paris und Wien ist voller
schillernder Namen: Charles Ephrussi, der die netsuke Sammlung
in den 1870er Jahren in Paris anlegte, war Kunsthistoriker und Publizist. Er
war mit allen grossen Namen des Impressionismus bekannt und soll Proust als
eines der Vorbilder für Swan gedient haben. Elisabeth von Ephrussi, de Waals
Grossmutter, verfasste in ihrem Zimmer im Palais Ephrussi, einem der
prächtigsten Gebäude an der Wiener Ringstrasse, Gedichte, die sie Rilke zur
Begutachtung sandte. De Waal bemerkt in seiner Einleitung (die übrigens der
einzig etwas schwerfällig zu lesende Teil des Buches ist, es lohnt sich aber
durchzuhalten), dass es leicht gewesen wäre, melancholische Bilder einer perfekten
Belle Epoque Welt und deren Untergang zu beschwören – sich einer sepia-getönten
Saga des Verlustes hinzugeben. Doch er verweigert sich den Versuchungen der
Nostalgie ebenso wie der historischen Analyse: die netsuke bleiben der stete Bezugspunkt der
Geschichte, die er erzählen will. Und trotzdem – oder vielleicht gerade
deswegen – wird er den vielen Persönlichkeiten, die mit den netsuke in Berührung kamen, in
Charakterbildern, die Widersprüche, Lücken und Risse zulassen, gerecht.
Der
Hase mit den Bernsteinaugen
ist keine kunsthistorische Abhandlung und doch erfährt man viel über japanische
Kunst und ihre Rezeption im Abendland im sogenannten Japonisme, über den Impressionismus und den Kulturbetrieb im Paris
des späten 19. Jahrhunderts. Der Hase mit
den Bernsteinaugen ist auch keine Studie über den Aufstieg und Fall einer
jüdischen Dynastie und doch sind die Themen Assimilation und Antisemitismus
stets gegenwärtig, manchmal nur im Hintergrund und dann wieder in ihrer ganzen
bedrückenden Wucht, dies vor allem in den Kapiteln zum Anschluss: das Palais Ephrussi
gehörte zu den ersten Häusern, die 1938 arisiert wurden. Wie die netsuke den Zweiten
Weltkrieg überstanden und wie sie zurück zur Familie Ephrussi fanden, sei nicht
verraten; gerade hier zeigt sich die Stärke von de Waals Ansatz – die Wucht seiner
Erzählung entfaltet sich in der Beantwortung der oben erwähnten scheinbar so
schlichten Fragen.
Der
Hase mit den Bernsteinaugen
ist eine aussergewöhnlich poetische, manchmal schmerzhafte und manchmal wunderschöne
Reise durch die Zeit, die sich jedem Versuch einer Kategorisierung konsequent
entzieht. Ein Buch, das man nicht so schnell vergisst.
Edmund de Waal: The Hare with Amber Eyes: a Hidden Inheritance, London 2010 / deutsch: Der Hase mit den Bernsteinaugen – Das verborgene Erbe der Familie Ephrussi, Wien 2011.
Edmund de Waal: The Hare with Amber Eyes: a Hidden Inheritance, London 2010 / deutsch: Der Hase mit den Bernsteinaugen – Das verborgene Erbe der Familie Ephrussi, Wien 2011.
*In der Sammlung, die de Waal erbte,
befindet sich auch ein in Form eines Hasen gearbeiteter netsuke und so kam das
Buch zu seinem Titel.
Ein wundervolles Buch! Aber es sei auch erwähnt dass es inzwischen weitere Romane in deutscher Sprache gibt, welche diese faszinierenden Netsuke thematisieren und die Welt, aus der sie stammen, nachempfindbar machen:
AntwortenLöschenhttps://buch-findr.de/themen/netsuke/
Vielleicht auch einen näheren Blick wert?
Würde mich sehr freuen!