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Sonntag, 20. Juli 2014

Die Julikrise II - Ablenkungen in Paris und London

Ein Merkmal der Julikrise ist, dass die unmittelbaren Reaktionen auf das Attentat seltsam verhalten waren . Erklärungen dafür gibt es viele: Attentate waren nichts Ungewöhnliches; der Erzherzog war (wegen seiner politischen Ansichten/seiner morganatischen Ehe/ etc.) nicht besonders beliebt gewesen u.s.w. Vor allem in Paris und London war man zudem stark abgelenkte, da andere Themen ie Schlagzeilen und die Innenpolitik beherrschten.*

Frankreich wurde seit Wochen von der Affäre Caillaux in Atem gehalten. Im März war der Chefredakture des konservativen Figaro, Gaston Calmette,  in seinem Büro von Madame Caillaux, der (zweiten) Gattin des Finanzministers, erschossen worden. Joseph Caillaux war  ehemaliger Premierminister (1911-12) und Führer der Radikal-Sozialistischen Partei. Auf Mai 1914 waren Neuwahlen angesagt  und so war es nicht weiter erstaunlich, dass der Figaro eine Kampagne gegen Cailloux lanciert hatte. Caillaux war nicht nur wegen seines Linkskurses, sondern auch wegen seiner pazifistischen Neigungen umstritten. In der Kampagne des Figaro wurden ihm Amtsmissbrauch und Bestechung vorgeworfen wurde. Als Calmette in den Besitz von Liebesbriefen zwischen Caillaux und seiner damaligen Geliebten – der jetzigen Madame Caillaux – kam und drohte, diese zu veröffentlichen, ergriff Madame Cailaux die Initiative.

Schweizer Illustrierte Zeitung Heft 12 /1914 - Titelbild. Man beachte die Bildunterschrift: Madame wird nicht als Mörderin, sondern als Rächerin bezeichnet. Die Affäre beendete zwar die politische Karrieren ihres Mannes nicht, schädigte sie aber langfristig. Dass seine Frau angeblich ihre Ehre selbst hatte verteidigen müssen, wog dabei mindestens so schwer, wie dass Caillaux seine (erste) Ehe gebrochen hatte.
Die Mischung aus Sex und Politik faszinierte und die Affäre beherrschte wochenlang die Schlagzeilen. Der Prozess gegen Madama Caillaux begann anfangs Juli. Ihr Gatte war inzwischen zwar wieder gewählt worden, das Amt des Premierministers, das ihm zugestanden hätte, konnte er aber nicht einnehmen, da er bis zum Prozessende sein Mandate niedergelegt hatte. Sattdessen wurde der farblose Viviani Premierminister, der von Präsident Poincaré dominiert wurde. Als ob all das nicht genug Futter für Schlazeilen gewesen wäre, gab es Geruücht, dass  Caillaux versuchen würde, auf das Gericht Einfluss zu nehmen. Kein Wunder, war die französische Aufmerksamkeit absorbiert. Die Verteidigung von Madame Caillaux argumentierte währenddessen, dass es sich um ein crime passionel gehandelt habe und dass Madame aufgrund der Frauen angeborenen emotionalen Instabilität für ihre Tat nicht verantwortlich gemacht werden könne. Henriette Caillaux wurde am 28. Juli, dem Tag des Kriegsbeginns, freigesprochen.

Schweizer Illustrierte Zeitung Heft 13/1914

Während in Paris ein gesellschaftlicher Skandal die Schlagzeilen beherrschte, war man in London von einem alten, immer wiederkehrenden Thema der britischen Politik abgelenkt: der irischen Home Rule. Im Frühjahr 1914 unternahm die Regierung in London einen dritten Anlauf, für Irland eine selbständige Regierung zu etablieren. Im vorwiegend protestantischen Ulster (d.h. Nord-Irland) regte sich dagegen heftiger Widerstand. Die sogenannten Ulstermen  über 100'000 Freiwillige – drohten mit bewaffnetem Widerstandd. Britische Kriegsschiffe wurden an die irische Küste beordert. Am 20. März erklärten 50 Kavallerie-Offiziere der Curragh Barracks in Irland, dass sie jeden Befehl, gegen die Ulstermen vorzugehen, verweigern würden. Aufgebrachte Stimmen redeten von einer Meuterei. Die Frage der Home Rule spaltete Armee, Kabinett, Unter- und Oberhaus und beschäftigte die britische Öffentlichkeit dermassen, dass das Attentat in Sarajevo schnell aus den Schlagzeilen verschwand; ein drohender Bürgerkrieg wog schwerer als ein weiteres Attentat auf dem Balkan. Die Times schrieb eine Woche nach dem Attentat, dass es für Europa nicht von Bedeutung wäre. Dass das Gegenteil der Fall sein würde zeigte sich im weiteren Verlauf des Monats.

Schweizer Illustriere Zeitung Heft 13 /1914

Die Ulster-Krise endete mit Kriegsausbuch, man verschob die Umsetzung der Home Rule  ein Entschluss mit weitreichenden Folgen wie die Geschichte Irlands im 20. Jahrhundert zeigen sollte.

* Detailliert bei Sean McMeekin: July 1914. Countdown to War, S. 68-77.


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